Heißt es sonst im Museum: “Nichts anfassen!” – wird man im neuen Bauhaus Museum Dessau, sogar darum gebeten, auf der Kunst Platz zu nehmen, sie gar zu verschieben und so neue Kunstwerke entstehen zu lassen. Das 100-jährige Bauhausjubiläum wurde im vergangenen Jahr vielseitig gefeiert. Unter anderem mit der Eröffnung des Dessauer Museums, das neben der umfangreichen Sammlung von Original-Objekten aus dem Kontext der berühmten Kunstschule auch zeitgenössische Arbeiten zeigt. Darunter eine von Jay Gard für das Bauhaus Museum Dessau und die Thonet GmbH gefertigte Edition von Marcel Breuers Stahlrohrhocker B 9 aus dem Jahr 1926: Genau 100 von Gard gestaltete, farbenfrohe Unikate dienen den Besuchern des Museums nun als Sitzgelegenheiten.
Das Bauhaus Residenz Programm, mit dem seit 2016 internationale Künstler in das Ensemble der Meisterhäuser zurückkehren, lädt jährlich zur künstlerisch-forschenden Annäherung an das Bauhaus. Künstler und Kollektive setzen sich mit pädagogischen, architektonischen und performativen Konzepten des Bauhauses aus heutiger Sicht auseinander.
Im Rahmen seiner Bauhaus Residenz im Sommer 2019 beschäftigte sich Jay Gard (geb. 1984 in Halle/Saale) intensiv mit den zur Bauhauszeit entwickelten Möbeln. „Der B 9 von Marcel Breuer mit seiner genialen Formgebung und dem perfekten Zusammenspiel von gebogenem Metall und der rechteckigen Holzplatte ist für mich viel mehr als ein Möbel, es handelt sich um ein beeindruckendes Kunstwerk“, so Jay Gard. Als die Stiftung Bauhaus Dessau ihn fragte, ob er eine Sonderedition des B 9 als Besucherhocker für das neue Museum gestalten möchte, zögerte er nicht lange. Denn auch die Geschichte hinter Marcel Breuers Stahlrohrhocker B 9, einer Ikone des modernen Designs im 20. Jahrhundert, faszinierte ihn. Gropius und Breuer selbst stritten seinerzeit um die Frage, inwieweit es sich bei dem Hocker um ein Massenprodukt oder um einen künstlerischen Entwurf handelt.
Farbspektakel – ein Designklassiker im Museum
Als Ausgangspunkt für sein neues Werk wählte Jay Gard einen handgewebten Kinderteppich von Grete Reichardt, genannt Margaretha, einer erfolgreichen Gestalterin aus der Textilwerkstatt des Bauhauses: „Sowohl die Materialität und Farben des gewebten Textils, das ebenfalls Teil der Ausstellung ist, als auch die Tatsache, dass es sich um ein Kunstwerk mit Gebrauchswert handelt, fand ich absolut spannend“, erklärt Gard die Wahl seines Bezugsobjekts. Er splitterte den Teppich in seine einzelnen Farben auf, durch Schattenspiel und Reflektionen kamen weitere Farbtöne hinzu. So ergaben sich ca. 30 Nuancen, die der Künstler auf den 100 Platten der Besucherhocker frei kombinierte.
Die Sitzfläche gestaltete er dabei jeweils monochrom, an den Seiten und unten drunter ließ er jeweils mehrere Farben fächerartig zusammenspielen, so dass jeder Hocker ein Unikat darstellt. Die speziellen, sehr fein pigmentierten Acrylfarben trug Gard im Rahmen seines Bauhausaufenthalts im Meisterhaus Schlemmer per Rolle auf die Holzplatten auf. Das Möbel, welches ursprünglich Teil von Breuers vierteiligem Satztischset (B 9 a-d) ist, hat genau die richtigen Maße für einen flexibel einsetzbaren Hocker, der von den Besuchern des Museums genau da platziert werden kann, wo sie gerne entspannt sitzend die umliegenden Exponate betrachten möchten. „Jeden Tag entstehen neue Anordnungen der Hocker. Durch diese spielerische Aktion spüren die Besucher sehr konkret, wie Farben miteinander wirken. Ich bin sicher, dass ein solch körperliches Erlebnis von Farben, eine Menge Kreativität freisetzt“, schwärmt der Künstler, der sich seit vielen Jahren mit Farbharmonien und -zusammenhängen auseinandersetzt.
Die Verschmelzung von Kunst und Design
Mit den Kollektionen „Margaretha 2“ und „Margaretha 3“ konnte Jay Gard seine intensive, jahrelange Auseinandersetzung mit dem Thema Farben noch auf weitere Art einbringen: Die aus Reichardts Teppich gewonnenen Farben trug er auf dünnes Schichtholz auf, welches er mit einem Lasercutter in kleine Streifen schnitt. Diese puzzelte er wiederum zur einen Hälfte kreisförmig, zur anderen in S-Form auf den Oberflächen von weiteren 30 Hockern zusammen. So ergaben sich zwei limitierte, aus Unikaten bestehende Kunsteditionen, welche in den Museumsshops von Jörg Klambt in Berlin, Potsdam und Dessau für jeweils 1.200 Euro zum Verkauf stehen.
Marcel Breuer und Thonet
1925 gestaltete Marcel Breuer am Bauhaus Metallmöbel für unterschiedliche Einsatzbereiche. In diesem Zusammenhang entstand der Hocker B 9 für die Kantine, der später als Satztisch auch in den Studentenapartments und Meisterhäusern in Dessau seinen Einsatz fand und noch heute Teil des Thonet-Portfolios ist. 1926/1927 gründete Marcel Breuer zusammen mit Kálman Lengyel die Firma „Standard Möbel“, um seine Entwürfe für die Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ in Stuttgart-Weißenhof herzustellen. Im selben Jahr stieß Anton Lorenz dazu und baute ein Netz von Nutzungsrechten für die neuen Stahlrohrmöbel auf. Die Firma produzierte die avantgardistischen Möbel ohne bestehende Nachfrage, der Erfolg blieb aus. Thonet war durch seine erfolgreichen Bugholzmöbel aus dem 19. Jahrhundert auch bei den Avantgardisten am Bauhaus bekannt. Das Familienunternehmen interessierte sich schon früh für die neuartigen Möbel aus Stahlrohr und deren Produktionstechnik. So überraschte es nicht, dass 1928 ein Vertrag zwischen Thonet und Marcel Breuer über ein eigenes Stahlrohrprogramm geschlossen wurde. Mit dem Kauf von „Standard Möbel“ im darauffolgenden Jahr wurde die Kooperation zwischen dem Bauhaus-Architekten und Thonet endgültig besiegelt und resultierte in der Markteinführung einer umfassenden Stahlrohrkollektion, die im Thonet-Steckkartenkatalog von 1930/31 eindrucksvoll ihre Breite entfaltet. Dieser Katalog, der an sich schon ein wahres Stück Designgeschichte ist, zeigt alle Modelle, die Breuer für Thonet entworfen hat, darunter auch der berühmte Freischwinger S 32 / S 64.
Schnell zum Luxus: www.thonet.de
Bilder: ©Thonet GmbH
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